HS „Das Europäische Königtum um 1200“ (SoSe 2001)

Priv.-Doz. Dr. M. Prietzel

 

Charakter oder Struktur? Gedanken über die Misserfolge König Johanns ohne Land

 

König Johann von England, der den bezeichnenden Beinamen „ohne Land“ führt, gilt traditionell als unfähiger König, die Verantwortung für die Niederlagen Englands gegenüber Frankreich wie auch für die Konflikte innerhalb des Landes werden ihm persönlich angelastet. Inwieweit trifft dies zu, inwieweit aber ist der König das Opfer von strukturellen Entwicklungen geworden, die zu beeinflussen nicht in seiner Macht stand?

 

Auch objektiv betrachtet war Johann Ohneland kein besonders erfolgreicher Herrscher. Drei große Konflikte kennzeichnen seine Regierungszeit (1199-1216): der Kampf mit Frankreich, wo während Johanns Regierungszeit die Gebiete nördlich der Loire verloren gingen (1204); der Konflikt mit der Kirche um die Investitur des Erzbischofs von Canterbury, an dessen Ende Johann England vom Papst zum Lehen nehmen musste (1213); schließlich die inneren Querelen mit den englischen Baronen, die dem König die Magna Charta Libertatum abtrotzen konnten (1215). Bei jedem der Konflikte büßte Johann persönlich und in seiner Funktion als Herrscher ein weiteres Stück seiner Macht ein.

Inwieweit ist nun Johann, dessen Beiname „ohne Land“ eigentlich von der am Widerstand der älteren Söhne gescheiterten Schenkung von Ländereien Heinrichs II. an seinen Lieblingssohn entstammt und erst im Nachhinein auf die französischen Gebietsverluste bezogen wurde, für diese Niederlagen verantwortlich? – Im Verlauf dieses Essays werde ich zeigen, dass Johann zwar in der Geschichtsschreibung unverhältnismäßig schlecht beurteilt wird, dennoch aber seine Person der Schlüssel zum Niedergang des Angevinischen Reiches ist.

Johann Ohneland hatte und hat in der öffentlichen Meinung keinen einfachen Stand. Schon „Robin Hood“, Trivialliteratur mit historischem Hintergrund, zeichnet ihn in Disney-kompatibler Schwarz/Weiss-Malerei als Verkörperung des Bösen – als den verbitterten kleinen Bruder, der seinem (rechtmäßig herrschenden und edler Weise auf dem Kreuzzug befindlichen) älteren Bruder Richard Löwenherz den Thron neidet und in dessen Abwesenheit eine Schreckensherrschaft aufbaut und Land und Leute grausam ausbeutet. Am Ende der Geschichte kehrt Lichtgestalt Richard Löwenherz, der strahlend gute und ritterliche Herrscher, auf einem Schimmel reitend und unter Trompetenklang vom Kreuzzug wieder.

Einem ähnlichen Muster folgen tatsächlich die zeitgenössischen Quellen. Gerade auch die einheimischen (englischen, die dem Landesherrscher vielleicht gewogen sein sollten) ziehen alle Register eines klassischen Unsympathen. Johann wird als unmoralisch dargestellt mit dem Vorwurf sexueller Verfehlungen, er sei unreligiös gewesen, grausam und brutal gegenüber Gefangenen, gierig nach Geld, feige, rachsüchtig, misstrauisch auch gegenüber besten Verbündeten – manchmal wurde Johann auch ganz einfach insgesamt als „schlecht“ bezeichnet.

Natürlich war es schon damals so, dass Erfolg sexy macht und entsprechend – im vorliegenden Fall – Misserfolg hässlich und unattraktiv. Anders gesagt: der Sieg hat viele Väter, die Niederlage nur einen Schuldigen: Johann Ohneland, den unfähigen Herrscher als Sündenbock. Doch auch aus anderen Gründen ist das überlieferte Bild Johanns mit Vorsicht zu genießen. Im Gegensatz zu anderen Königen seiner Zeit bezahlte er keine offiziellen Geschichtsschreiber, die sein Image noch zu Lebzeiten in eine entsprechende Richtung hätten schärfen und beeinflussen können. Philipp Augustus als der große Widersacher Johanns, tat genau das – nur mit Mühe kann heute aus den Überlieferungen ein Bild des französischen Herrschers herausgefiltert werden, das sich von dem Johanns auch nicht so sehr unterscheidet.

Ein anderes Beispiel für über Gebühr positive Geschichtsschreibung ist der bereits im Robin Hood-Zusammenhang erwähnte Richard Löwenherz. Die hierfür verantwortlich zeichnenden Quellen sind größtenteils aus geistlicher Feder. Johanns Bruder achtete Zeit seines Lebens auf ein entspanntes Verhältnis zur Kirche. Nicht nur nahm er in bester christlich-ritterlicher Vorbildfunktion eines gottesfürchtigen Herrschers das Kreuz, auch war er ein regelmäßiger Kirchgänger und Wohltäter von Klöstern und Kapellen. Gerade letzteres sicherte ihm natürlich den Beifall der mönchischen Geschichtsschreiber. Im Gegensatz dazu Johann Ohneland, der kein großer Freund der Geistlichkeit war. Seine Bereitschaft zu Stiftungen und Schenkungen für die Kirche hielt sich in engen Grenzen, und nicht nur einmal kam er mit der Kurie in Konflikt – hervorstehend hier die Streitereien um die Investitur des Erzbischofs von Canterbury, an deren Ende er 1213 gezwungen war, den Papst als englischen Lehnsherren anzuerkennen. Doch auch regionaler denkende Mönche verfolgten argwöhnisch alle von Johann vorgenommenen Veränderungen, die die soziale Stabilität gefährden könnten,  und standen dem königlichen Regiment kritisch gegenüber.

Also ist Misstrauen gegenüber dem überlieferten Urteil über Johann grundsätzlich angebracht. Wenden wir uns nun den Rahmenbedingungen der Herrschaft Johanns zu. 

Das Land, das Johann von seinem Bruder Richard nach dessen Tod 1199 erbte, war reich und groß. Das nach dem regierenden Herrscherhaus Anjou-Plantagenet so genannte Angevinische Reich bestand aus dem Königreich England, Irland sowie den französischen Kronlehen Normandie, Bretagne, Anjou, Maine, Touraine und Aquitanien. Durch geschickte dynastische Politik von Johanns Großeltern zusammengekommen, vereinigte das nach dem deutschen Kaiserreich zu der Zeit wohl mächtigste abendländische Herrschaftsgebiet in sich sowohl sprachlich und kulturell als auch vom Entwicklungsgrad her sehr unterschiedliche Ländereien. England litt noch immer unter den Differenzen zwischen den einheimischen Angelsachsen und den 1066 siegreichen normannischen Eroberern. Im zivilisierteren Frankreich hingegen lauerte der französische König auf eine Chance, dem Angevinischen Reich als größten innen- wie außenpolitischen Gegner etwas seiner Macht zu entreißen.

Bereits 1204, fünf Jahren nach seiner Thronbesteigung, musste Johann im ersten der oben angeführten drei großen Konfliktfelder eine entscheidende Niederlage einstecken: den Verlust der Stammländer des Angevinischen Herrscherhauses, der Normandie und Anjou, anders gesagt: des Herzens des Angevinischen Staatsgebildes. Die französischen Heere marschierten im Anschluss an eine dreimonatige Belagerung der Burg Chateau-Gaillard, die von Richard Löwenherz als Symbol der Stärke in kurzer Zeit hochgezogen worden war, durch die burgenstarrende und damit eigentlich wehrhafte Normandie, als seien es wenige Jahre zuvor nicht die normannischen Ritter gewesen, denen an Kampfkraft keine Macht in Europa Paroli bieten konnte. Johann weilte während der Belagerung in England und unternahm keine ernsthaften Versuche zum Entsatz der gefährdeten Gebiete.

Gleichzeitig brach Alfons VIII. von Kastilien in die südfranzösischen Besitzungen Johanns ein. Obwohl in der Folgezeit Gebiete zurückgewonnen werden konnten, blieb die englische Macht in Frankreich angeknackst und war nicht in der Lage, den vormaligen Besitz nördlich der Loire wiederzuerlangen.

Interessant wird der Konflikt auch besonders mit einem Rückblick auf nur zwei Jahre zurückliegende Ereignisse. Hier hatte Johann handstreichartig seinen vom französischen König gestützten innenpolitischen Gegnern eine vernichtende Niederlage bereitet. Hintergrund war der Versuch seines Neffen Arthur von der Bretagne, Johann die Thronfolge streitig zu machen, auf die er gemäß seiner Geburt als erstgeborener Sohn von Geoffrey, dem ältesten Sohn Heinrichs II., Ansprüche erhob. Johann konnte nun seinen Widersacher nach einem zweitägigen Gewaltmarsch von Poitiers zur Burg Mirebeau, wo Johanns Mutter Eleonore eingeschlossen war, beim Frühstück überraschen, eine Aktion, die ihm offensichtlich von den Zeitgenossen nicht zugetraut wurde – sonst hätten sich Arthur und seine Anhänger nicht in Sicherheit wiegend dem Wachtelessen hingegeben. Johann konnte hier 200 Ritter, ein halbes Dutzend Barone und den Anführer der Opposition gefangen nehmen – ein Sieg, wie ihn weder Richard Löwenherz noch Heinrich II. hatte erringen können.

Wie verträgt sich diese mutige und entschlossen durchgeführte Operation mit dem Bild des misstrauischen und feigen Johann aus der Überlieferung? Und wie konnte es nach einem derartigen Triumph zu einer Schwächung des Angevinischen Reiches kommen, die Philipp Augustus nur zwei Jahre später den Durchmarsch durch Anjou und die Normandie ermöglichte?

Fragen, die mit Blick auf das Umfeld und die Person Johanns beantwortet werden können. Denn treibende Kraft hinter der Überraschungsaktion von Mirebeau war keineswegs der König, sondern zwei seiner Barone (Aimeri von Touars und Wilhelm von Roches), die genau die Eigenschaften besaßen, auf die es hier ankam (und die Johann abgingen), Mut und Entschlossenheit. Und die Folgezeit  mit dem schnellen Niedergang zeigt, dass Johann nicht in der Lage war, mit seinem Sieg vernünftig umzugehen. Er versäumte die Belohnung verdienter Gefolgsleute, die sich von ihrer Unterstützung natürlich etwas erwartet hatten. Statt dessen wurde er ihnen gegenüber misstrauisch, und sie fielen von ihm ab. In folgenden Konflikten standen sie gegen den König.

Das Motiv vom Abfall eigentlicher Verbündeter zieht sich wie ein roter Faden durch die Regierungszeit Heinrichs. Schon hinter den Ansprüchen Arthurs von der Bretagne standen ehemalige Verbündete, die nur kurz zuvor Johann an die Macht geholfen hatten, an erster Stelle Hugh von Lusignan, dessen Braut Isabella von Angoulême Johann 1200 aus strategischen Gründen ehelichte.

Johanns ungeschicktes Verhalten gegenüber den Gefangenen von 1202 – Arthur verschwand einfach, und das Gerücht, er sei im Auftrag Johanns ermordet worden, ließ sich nie entkräften; die anderen wurden wohl auch nicht besonders gut behandelt – tat ein übriges, um nahezu den gesamten Adel in Anjou gegen ihn aufzubringen. Philipp Augustus, der derartige Meinungsverschiedenheiten natürlich nach Kräften förderte, konnte sich die Hände reiben. Denn auch die weiteren alten Verbündeten Richard Löwenherz’ – innenpolitische Gegner des französischen Königs sowie die flandrischen Machthaber – waren entweder auf dem Kreuzzug oder fielen nach und nach von Johann ab.

In der englischen Innenpolitik zeigt sich ein ähnliches Bild. Schon Johanns Vorgänger lagen zeitweise im Konflikt mit der Kurie oder den Baronen, doch erst Johann verstand es so ungeschickt zu taktieren, dass sie sich gemeinsam gegen ihn wandten. Nur mit Mühe überstand Johann den Investiturstreit um den Erzbischof von Canterbury, der 1207 seinen Anfang nahm. Zeitweilig mit dem Kirchenbann belegt, musste Johann 1213 unter Eindruck der Gefahr einer drohenden französischen Invasion Englands klein bei geben und Papst Innozenz III. als Lehnsherren anerkennen. Doch der Gedanke einer von Königsgewalt unabhängiger Kirche, also die Annahme, dass eine über dem König stehende Rechtsinstanz existiert, bildete auch die Grundlage der Rebellion der Barone, was 1214 in der Magna Charta endete. 

So zeigt sich, dass – trotz aller modernen Relativierungen der ihm übel gesonnenen Überlieferung – Johann Ohnelands Person für den Niedergang des Angevinischen Reiches verantwortlich gemacht werden kann. Ein stärkerer und entschlossenerer König hätte in den Krisensituationen, besonders in Frankreich in den Jahren nach 1204, durch entschiedenes Auftreten die Lage zu seinen Gunsten wenden können. Anders gesagt: In ruhigen Zeiten wäre Johann vielleicht kein auffälliger Herrscher gewesen. Doch ein heterogenes, auseinanderstrebendes Reich zusammenzuhalten und inneren wie äußeren Widerständen zu trotzen, dazu war Johann Ohneland einfach nicht angemessen in der Lage.

 

 

Literatur:

Fryde, Natalie M.: The Roots of Magna Carta. Opposition to the Plantagenets, in: Joseph Canning, Otto Gerhard Oexle (Hg.), Political Thought and the Realities of Power in the Middle Ages – Politisches Denken und die Wirklichkeit der Macht im Mittelalter (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 147), Göttingen 1998, S. 53-65.

 

John Gillingham, The Fall of the Angevin Empire, in: Richard Coeur de Lion. Kingship, chivalry and War in the Twelfth Century, London / Rio Grande 1994, S. 193-200.

 

Turner, Ralph V.: King John in his context: a comparison with his contemporaries, in: Haskins Society Journal 3, 1992, S. 183-195.

 

 

Bewertung:

Die maßgeblichen Faktoren zu einer Beurteilung Johanns ohne Land stellen Sie umfassend dar. Wie im ersten Essay aber fehlt Ihnen am Ende der Schwung, der den Anfang auszeichnete. Die letzten beiden Absätze hätten mit der gleichen sorge um die treffende Formulierung und um die präzise Pointierung bearbeitet werden sollen wie die ersten.

Stilistisch sind Sie, wie schon beim ersten Essay gesagt, sehr wendig. Gerade deswegen habe ich an manchen Stellen auch noch Kleinigkeiten angemerkt. An manchen Punkten nämlich zeigt sich hinsichtlich des Stils etwas Ähnliches wie des Inhalts: Es fehlen die letzten 10% Zeit und Herumfeilen, um die hohen Standards, die Sie an vielen Stellen erreichen, im ganzen Text gleichmäßig zu halten.

Ich bewerte Ihren Essay daher mit einer „2+“.