Humboldt-Universität zu Berlin, Philosophische Fakultät I, Institut für Geschichtswissenschaften
Dr. Ralf Pröve
Proseminar „Vom Untertan zum Staatsbürger. Staat und Gesellschaft in der Sattelzeit (1750-1850)“
Sommersemester 1998

 

 
 

Frühe Turnbewegung und Staatsform

 Inhaltsverzeichnis


0. Einleitung

1. Die Turnbewegung in der Sattelzeit

2. Friedrich Ludwig Jahns Nationalismus

3.Turnen und Staatsform
3.1 Nach der Ideologie
3.2 In der Praxis - Innere Organisation

4. Schlußbemerkung

5. Quellen- und Literaturverzeichnis
5.1 Quellenverzeichnis
5.2 Literaturverzeichnis

Anhang:
Brief von Friedrich Ludwig Jahn an Theodor Müller vom 17. Januar 1817, aus: Meyer, Wolfgang (Hg.): Die Briefe Friedrich Ludwig Jahns, 2. erw. Aufl., Dresden 1930 (Quellenbücher der Leibesübungen, 9), S. 93f.
 

0. Einleitung


Im Übergang von der frühen Neuzeit zur Moderne spielten Vereine eine wichtige Rolle.  Aus verschiedenen Beweggründen entstanden boten sie einer immer breiter werdenden Basis von Bürgern die Möglichkeit zum gesellschaftlichen Engagement.
Ein besonderer Fall unter den Vereinen waren die Turngesellschaften, mit denen sich diese Hausarbeit beschäftigen wird. In den Turngesellschaften partizipierte erstmals eine breitere Masse auch aus unteren Bevölkerungsschichten.  Als wichtigste Grundlage und ergiebigste Sekundärquelle zu diesem Thema erwies sich die Arbeit von Dieter Düding;  Die Schriften und Briefe von Friedrich Ludwig Jahn waren die wichtigsten Primärquellen.
Vereine trugen viel zu der politischen Bewußtseinsbildung in der Bevölkerung bei. Diese Arbeit soll nun der Frage nachgehen, inwieweit die Turnbewegung, insbesondere in ihrer Frühzeit 1811-19, als sie noch unter dem direkten Einfluß von Friedrich Ludwig Jahn stand, bei dieser Bewußtseinsbildung eine Rolle spielte. Zu diesem Zweck ist die Arbeit folgendermaßen aufgebaut: Es wird zuerst ein kurzer chronologischer Überblick über die Anfänge der Turnbewegung gegeben. Des weiteren ist es unerläßlich, auf die Frage nach dem Stellenwert des Nationalismus in der hinter der Turnbewegung stehenden Ideologie einzugehen, worauf im folgenden Kapitel eingegangen wird. Schließlich wird die Rolle der Staatsform in Jahns Ideologie erörtert und mit der organisatorischen Struktur der frühen Turnvereine verglichen.
 

1. Die Turnbewegung in der Sattelzeit


Unter Einfluß des im Jahre 1762 erschienenen Erziehungsromans „Emile“ von Jean-Jacques Rousseau entstand in Deutschland im ausgehenden 18. Jahrhundert der Philanthropismus,  der als pädagogische Reformbewegung ein Erziehungsprogramm zu verwirklichen suchte, in dem auch Leibesübungen ein wichtiger Bestandteil waren. 1774 gründete Johann Bernhard Basedow eine auf philanthropischen Grundsätzen basierende private Erziehungsanstalt in Dessau mit gymnastischen Übungen als Unterrichtsfach.  Erster Publizist der philanthropischen Gymnastik war Johann Christoph Friedrich GutsMuths, der 1786 die Leitung des Gymnastikunterrichts der Anstalt Schnepfenthal übernahm und sieben Jahre später das Lehrbuch „Gymnastik für die Jugend“ veröffentlichte.

Friedrich Ludwig Jahn, der sich 1810 mit seinem Buch „Deutsches Volksthum“ als nationaldeutscher Publizist in eine Reihe mit Autoren wie Ernst Moritz Arndt, Johann Gottlieb Fichte und Friedrich Schleiermacher gestellt hatte,  eröffnete im Jahre 1811 den Turnplatz in der Hasenheide, der von einer ständig wachsenden Zahl an Turnern genutzt wurde. Auch in anderen Städten wurden Turngesellschaften gegründet, was von den Berliner Turnern sowie durch das Erscheinen der „Turnkunst“  1816 stark vorangetrieben wurde. Ein Jahr vor dem Verbot des Turnbetriebs durch das Preußische Innenministerium im Jahre 1819 gab es nach Jahns Aufzeichnungen 150 Turnanstalten und etwa 12.000 Turner in ganz Deutschland.  Gleichzeitig mit dem Verbot wurde auch Jahn für sechs Jahre verhaftet, und fast alle deutschen Staaten verboten ebenfalls das Turnen.

1842 machte eine Kabinettsorder von Friedrich Wilhelm IV. das Verbot in Preußen, die „Turnsperre“  rückgängig, und sofort begann der Turnbewegung wieder in der Bevölkerung Fuß zu fassen. Ende 1847 hatten die Turnvereine in Deutschland 80 - 90.000 Mitglieder und waren - in enger Beziehung zu den Sängerbünden - wieder zu einer wichtigen politischen Massenbewegung geworden.  Nach der gescheiterten Revolution von 1848 wurden die Turnvereine 1852 wieder verboten, was aber um 1860 zurückgenommen wurde, so daß sich die Turnbewegung neu konstituieren konnte.
 

2. Friedrich Ludwig Jahns Nationalismus


Die Leibesübungen der Philanthropen in der Zeit vor 1811 waren noch weitgehend unpolitisch. Johann Christoph Friedrich GutsMuths verband sie noch nicht - wie später Jahn - mit national-politischen Vorstellungen, auch wenn er seinen gymnastischen Übungen durchaus einen Nationalgefühl weckenden und fördernden Effekt zumaß.

In der von Friedrich Ludwig Jahn begründeten Turnbewegung hingegen nahm der Nationalismus eine weitaus bedeutendere Stellung ein. Jahn, der oft verniedlichend und verharmlosend als „Turnvater“ bezeichnet wird,  hatte als Begründer der Turnbewegung nicht nur Leibesertüchtigung zum Ziel, sondern verfolgte auch politische Zielsetzungen.

Der Nationalismus von Jahns Bewegung richtete sich hauptsächlich gegen Frankreich,  das Preußen 1806 in den Schlachten bei Jena und Auerstedt eine vernichtende Niederlage bereitet hatte. Den preußischen Zusammenbruch  erklärte sich Jahn mit der Übernahme französischer Sprache und Kultur durch die preußische Führungsschicht   - er bezeichnete dies als „Götzendienst des Auslandes“.  In seinem 1810 erschienenen „Volksthum“ formulierte Jahn seine Vorstellungen folgendermaßen: „Es ist ein langersehnter Schöpfungsbeginn, wenn ein Volk nach dem Verlauf schrecklicher Jahre sich selbst, der Zeitgenossenschaft und der Nachwelt laut und frei und ohne Rückhalt offenbaren darf, in welche volkentwürdigende Dienstbarkeit es durch Ausländerei geraten war.“  Eindeutig beschrieb er hier sein Ziel: Abschüttelung aller „Ausländerei“ - also sowohl der ausländischen Besatzung als auch der ausländischen Sitten.

Das Mittel zur Erreichung dieses Zieles war ein Kampf aller Deutschen gleich welchen Standes gegen Frankreich bzw. die Vorbereitung des Kampfes durch körperliche Ausbildung und durch die Ausbildung eines deutsch-nationalen Bewußtseins.  Für beides war das Turnen bestens geeignet. Leibesübungen kräftigten den Körper und machten ihn „wehrhaft“, in den Pausen und in Einzelgesprächen gab Jahn seine nationalen Vorstellungen weiter.  Die Turnbewegung war in ihrer Anfangszeit also pädagogisch ausgerichtet.

Wirklich konkrete Ziele hatte der Nationalismus der Turner nach den Befreiungskriegen nicht. Es gab kein schriftlich fixiertes Programm; dennoch spiele der Nationalismus weiterhin eine bedeutende Rolle, letztlich war er es auch, aufgrund dessen die Turnbewegung 1819 verboten wurde.
 

3. Turnen und Staatsform


3.1 Nach der Ideologie

In seinem Buch „Deutsches Volksthum“ (1810) gab Friedrich Ludwig Jahn schon die ersten Vorgaben zu der seinen Vorstellungen gemäß idealen Staatsform: Er wünschte sich einen starken Staat, der jedoch auch die Rechte der Bürger achtet,   der „sie nicht als ewige Unmündige in ewige Vormundschaft nimmt“,  und der auch die „Teilnahme der einzelnen Staatsbürger am Wohl und Weh des Ganzen“  sieht - also auf jeden Fall eine Staatsform mit Verfassung und möglicher Beteiligung der Bürger.

Konkreter wurde Jahn später in Briefen und Reden. Bestes Beispiel ist der als Quelle dieser Arbeit beigefügte Brief Jahns an Theodor Müller aus dem Jahre 1817, in dem Jahn von „freiwilligen Sprechern, die darauf von gewählten Worthaltern abgelöst werden müssen“ spricht.  Jahn, der sich zweifellos als einen dieser „freiwilligen Sprecher“ sah, plädiert hier eindeutig für ein demokratisches Element in der zu erstrebenden Staatsform. Der gewählte Ausdruck „Worthalter“ spiegelt die Enttäuschung über die Restauration der vornapoleonischen Verhältnisse und absoluten Monarchien durch den Wiener Kongreß 1815 sowie über die damit einhergehenden nicht eingehaltenen Verfassungsversprechen wider. Dennoch war Jahn ein glühender Anhänger des Hauses Hohenzollern. Er wünschte sich also eine konstitutionelle Monarchie unter Führung des preußischen Herrscherhauses.

Als Jahn schließlich 1848 als Abgeordneter in der Paulskirche die wirkliche Möglichkeit zur Mitgestaltung einer gesamtdeutschen Staatsform hatte, stand er allen demokratisch-republikanischen Ideen sowie der Revolution selber kritisch gegenüber. Er galt als „strenger Monarchist“.  Freilich hatte Jahn zu diesem Zeitpunkt schon sein Interesse an der Turnbewegung weitgehend verloren.

3.2 In der Praxis - Innere Organisation

In der Anfangszeit von der Gründung bis zum Verbot der Turnbewegung (1811-1819) gab es noch keine niedergeschriebenen Vereinssatzungen. Vorhandene „Turngesetze“ legten den Betrieb auf dem Turnplatz fest, gaben jedoch keine Vorgaben zur Bildung von vereinsführenden Gremien. Als Gründer und „Vater“ der Turnbewegung nahm Friedrich Ludwig Jahn in Berlin auch noch eine stark gehobene, patronale Stellung ein; zu seiner Entlastung rief er 1814 den „Turnrath“ ins Leben, der aus neun von ihm bestimmten Turnern bestand und eine beratende Funktion hatte. Alle Beschlüsse des Turnrats mußten von Jahn bestätigt werden, und auch die Erweiterung des Rats um 16 Turner wurde nicht durch Wahl, sondern durch Kooptation realisiert.
Demokratisch kann man diesen Aufbau sicherlich nicht nennen - dazu war Jahn zu sehr in patriarchalischer Rolle präsent.  Düding beschreibt die frühe Turnbewegung als „recht archaischen Typ einer gesellschaftlichen Vereinigung“.

In der vormärzlichen Phase (ab 1842) hingegen waren die Turnvereine demokratisch organisiert. Die Vereinsstatuten legten eindeutig Wahl und Kompetenzen von Vereinsgremien fest. Meist wählte eine Vollversammlung der Vereinsmitglieder den Vorstand, der die Geschäfte führte.  Die Gründung eines demokratisch organisierten Dachverbandes scheiterte 1848,  gelang jedoch der dem erneuten Verbot 1852 folgenden Wiederzulassung im Jahre 1860.
 

4. Schlußbemerkung


Die von ihm in Schrift und Wort vertretene Forderung nach einer konstitutionellen Monarchie verwirklichte Friedrich Ludwig Jahn nicht in der Praxis in den Turngesellschaften. Eine Hauptursache hierfür liegt in der pädagogischen Ausrichtung des frühen Turnens. Erst nach der „Turnsperre“ folgte die innere Organisation der Turnvereine demokratischen Prinzipien.
Durch andere in den Turngesellschaften praktizierte und vermittelte Elemente seiner Ideologie (Gleichheit unabhängig von sozialer Herkunft, Forderung nach Bürgerbeteiligung) und der Wirkung des Turnens als Massenbewegung jedoch bereitete Jahn den Boden für die Ausprägung einer vereinsinternen Demokratie in späteren Jahren.
 

5. Quellen- und Literaturverzeichnis


5.1 Quellenverzeichnis

 Euler, Carl (Hg.): Friedrich Ludwig Jahns Werke, Bd. I-II, Hof 1884-88
Jahn, Friedrich Ludwig und Eiselen, Ernst Bernhard: Die deutsche Turnkunst, Berlin 1816
Jahn, Friedrich Ludwig: Entdeckung des Volkstums, gekürzte und kommentierte Ausgabe von „Deutsches Volksthum“ (1810), Berlin 1935
Meyer, Wolfgang (Hg.): Die Briefe Friedrich Ludwig Jahns, 2. erw. Aufl., Dresden 1930 (Quellenbücher der Leibesübungen, 9)

5.2  Literaturverzeichnis

Bernett, Hajo: Johann Christoph Friedrich GutsMuths, in: Ueberhorst, Horst (Hg.): Leibesübungen und Sport in Deutschland von den Anfängen bis zum ersten Weltkrieg, Berlin 1980 (Geschichte der Leibesübungen, 3.1), S. 197-214
Düding, Dieter: Organisierter gesellschaftlicher Nationalismus in Deutschland  (1808-1847). Bedeutung und Funktion der Turner- und Sängervereine für die deutsche Nationalbewegung, München 1984 (Studien zur Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts, 13)
Euler, Carl: Friedrich Ludwig Jahn. Sein Leben und Wirken, Stuttgart 1881
Geldbach, Erich: Die Philanthropen als Wegbereiter moderner Leibeskultur, in: Ueberhorst, Horst (Hg.): Leibesübungen und Sport in Deutschland von den Anfängen bis zum ersten Weltkrieg, Berlin 1980 (Geschichte der Leibesübungen, 3.1), S. 165-196
Hardtwig, Wolfgang: Strukturmerkmale und Entwicklungstendenzen des Vereinswesens in Deutschland 1789-1848, in: Dann, Otto (Hg.): Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft, München 1984, S. 11-50
Hardtwig, Wolfgang: Art. „Verein“, in: Brunner, Otto, Conze, Werner und Koselleck, Reinhart (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland Bd. 6, Stuttgart 1990, S. 789-829
Klenke, Dietmar: Nationalkriegerisches Gemeinschaftsideal als politische Religion. Zum Vereinsnationalismus der Sänger, Schützen und Turner am Vorabend der Einigungskriege, in: Historische Zeitschrift 260 (1995), S.395-448
Krey, Ursula: Vereine in Westfalen 1840-55. Strukturwandel, soziale Spannungen, kulturelle Entfaltung, Paderborn 1993
Neumann, Hannes: Leibesübungen im Dienste nationaler Bestrebungen: Jahn und die deutsche Turnbewegung. Teil I: Von den Anfängen bis zur Reichsgründung, in: Ueberhorst, Horst (Hg.): Leibesübungen und Sport in Deutschland von den Anfängen bis zum ersten Weltkrieg, Berlin 1980 (Geschichte der Leibesübungen, 3.1), S. 257-277
Nipperdey, Thomas: Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Eine Fallstudie zur Modernisierung, in: ders.: Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte, Göttingen 1978, S. 174-205
Recla, Josef: Freiheit und Einheit. Eine Turngeschichte in gesamtdeutscher Beleuchtung, Graz 1931
Stöcker, Gerhard: Volkserziehung und Turnen. Untersuchung der Grundlagen des Turnens von Fr. L. Jahn, Stuttgart 1971 (Beiträge zur Lehre und Forschung der Leibeserziehung, 43)
Ueberhorst, Horst: Zurück zu Jahn? Gab es kein besseres Vorwärts? Bochum 1969
 


Bewertung:

Eine insgesamt den Anforderungen entsprechende Arbeit. Ein wenig intensiver hätten die Zusammenhänge schon ausgearbeitet werden können; einige Sätze wirken recht holprig. 2,3


back